Am 3. September 1841 machte sich ein Tross von vierzig Männern, die meisten von ihnen aus dem Pinzgau, zur Erstbesteigung des Großvenedigers auf. Sie führten eine rot-weiß-rote Fahne mit sich, die nach der geglückten Bezwingung des Bergs auf dem Gipfel gehisst, wieder talwärts genommen und erst in Mittersill beschriftet wurde. Kurze Zeit danach kam sie in das Städtische Museum in Salzburg. Diese Handlung veranschaulicht nicht nur die große Bedeutung dieses Unternehmens, sondern auch ihren patriotischen Charakter.
„Da wir wohl wußten, daß unser Unternehmen mit großer Gefahr verbunden sei, wollten wir in der Kraft des Glaubens Ermuthigung suchen und so wurde hier laut das Gebet des Herrn gebetet. Die Feierlichkeit der Handlung und der Ernst der Veranlassung, welch’ beide in Aller Mienen zu lesen waren, stand in schönstem Einklange mit der großartigen Erhabenheit des Ortes, an dem wir uns befanden. Der nahe, mächtig sich erhebende Gletscherabsturz mit seinen phantastisch gebildeten Eismassen und die hoch darüber zum Sternenhimmel strebenden riesigen Schneeberge waren vom Vollmonde feenhaft beleuchtet, während in seinem Scheine der nahe tosende Fall der Ache tausend und abermal tausend aus den Eishallen herabstürzenden Diamanten glich. Aber auch die Gruppe der Betenden selbst erhielt durch die Gestalten derselben, mit wenigen Ausnahmen fast durchgehends stämmige Söhne des Pinzgaus, […] und durch die in der Mitte des Kreises befindliche, vom Nachtwind leicht bewegte Fahne ein hochromantisches Ansehen, und man wurde unwillkürlich an eine Gruppe beim schweigenden Mondlichte zur Vertheidigung des heimathlichen Bodens sich vereinigender Gebirgsbewohner erinnert.“ Von diesem bewegenden Ereignis erzählt Anton von Ruthner 1864 in seinem Bericht über die erste Besteigung des Großvenedigers am 3. September 1841, an der er selbst beteiligt war. Ein Zug von vierzig Teilnehmern hatte sich am frühen Nachmittag des 2. September 1841 von Neukirchen aus auf den Weg gemacht, um den Giganten von der nördlichen Seite aus zu besteigen. Wenige Stunden der Nachtruhe und des Kraftschöpfens hatte sich der Tross in zwei Alphütten gegönnt, bevor er sich zum oben geschilderten Gebet versammelte und sich danach, um halb zwei Uhr in der Frühe, zum eigentlichen Anstieg aufmachte. Mit scharfer und feinsinniger Beobachtungsgabe führt von Ruthner dem Leser die Sinnhaftigkeit dieses patriotischen Unternehmens vor Augen. Das Unterfangen, den Großvenediger zu besteigen, erfuhr 1841 eine umso größere Bedeutung, weil der erste Versuch Erzherzog Johanns, diesen Berg am 8. August 1828 zu erklimmen, wegen eines Lawinenunglücks gescheitert war und der Eisriese daraufhin dreizehn Jahre lang als unbezwingbar galt. Obwohl der Großglockner höher als der Großvenediger ist, kursierte bei Heimat verbundenen Salzburgern eine andere Überzeugung. Und so war es zusätzlich, über den hohen Schwierigkeitsgrad seiner Besteigung hinaus, eine der größten Herausforderungen, „die höchste Bergspitze in dem österreich. Kaiserstaate“ (Lasser von Zollheim) zu erobern.
Neben der Schilderung Anton von Ruthners existieren zwei weitere Berichte über die Erstbesteigung des Großvenedigers im Jahr 1841: der Josef Lasser von Zollheims sowie der Ignaz von Kürsingers, beide ebenfalls Teilnehmer an dem Unternehmen. Den Entschluss, die Besteigung dieses Berges gefasst zu haben, nahm Josef Lasser von Zollheim für sich in Anspruch. Die Entscheidung habe er gemeinsam mit Anton von Ruthner und Otto von Gravenegg im Sommer 1841 in Wien getroffen. Auch Ignaz von Kürsinger, Pfleger in Mittersill, fühlte sich als Urheber des gewagten Unterfangens. Er setzte mit großer Energie die nötigen Vorbereitungen in Gang, erklärte das Unternehmen zur „pinzgauerischen Nationalangelegenheit“ und inserierte in der Salzburger Zeitung einen Aufruf zur Teilnahme an der Erstbesteigung des Großvenedigers. Die Resonanz war überwältigend. Am 2. September 1841 fanden sich vierzig Männer ein, die an dem großen Ereignis teilhaben wollten. Lasser von Zollheim beschreibt den Moment, in dem sich die große Schar von Neukirchen in Richtung Großvenediger in Bewegung setzte, allen voran die Führer, die „den Pflock und die weiß und rote Fahne“ trugen. Es war dieselbe Fahne, die am nächsten frühen Morgen in der Mitte der im Kreis Betenden aufgestellt und vom Nachtwind leicht bewegt wurde. Ignaz von Kürsinger war der Initiator des Pflocks und der Fahne gewesen. Von Ruthner schreibt: „Herr von Kürsinger hatte […], um die Festlichkeit des Unternehmens zu erhöhen, eine Fahne mit den Landesfarben, roth mit weißem Mitteltheile, und einen gelb und schwarz bemalten Pflock besorgt […], von denen die erstere das Gelingen der Ersteigung von der Spitze herab verkünden, der letztere aber auf dem Gipfel aufgerichtet werden sollte, um in seiner, mit einem Schieber versehenen Oeffnung, in einer Büchse von Blech ein Pergament mit den Namen derjenigen, welche die Spitze glücklich erreichten, für künftige Ersteiger aufzubewahren.“ Und so geschah es auch. Nach der Nächtigung in den beiden Alphütten begannen die vierzig Männer mit dem Anstieg, die beiden Führer mit der Fahne an der Spitze. Nach acht ein halb Stunden teilweise gefährlichen Gehens und Kletterns, kurz vor zehn Uhr, hatte ein Teil des Trosses den Gipfel erreicht. Von Kürsinger schreibt: „Unser Führer stieß nun den Pflock in den eisigen Boden […] An einer Kante […] sind drei eiserne Ringe mit Schrauben angebracht, woran die Fahne festgeschraubt wurde. Kaum war der Pflock in den Eisboden eingehauen, kaum war die Fahne eingeschraubt und flatterte hinaus in die schwindelnden Lüfte, da erscholl es aus den heiseren Kehlen der Vorhut wie aus einem Munde von der eisigen Spitze herab: Hoch lebe das Haus Österreich! Hoch lebe die ganze Gesellschaft! Hoch leben alle Pinzgauer!“ Der Großvenediger war erstiegen. Die Männer machten sich auf den beschwerlichen Abstieg, die Fahne nahmen sie mit. Von Ruthner berichtet, dass sie am Nachmittag „mit der Fahne und unter Trompetenschall“ durch die Dörfer nach Mittersill fuhren, wo sie herzlich empfangen und beglückwünscht wurden. „Auch wurde die Fahne, welche wir mit auf dem Venediger gehabt hatten, mit den Worten ‚Zur Erinnerung an die erste Ersteigung des großen Venedigers am 3. September 1841’ von einem zu Mittersill eben anwesenden Wiener, Rudolf Felner, mit wirklich kalligraphischer Schönheit beschrieben und dem ständischen Museum zu Salzburg zum Andenken an die erste Ersteigung der höchsten Spitze des Herzogthums übersandt.“ Lasser von Zollheim beschreibt Rudolf Felner als Reisegefährten, der ihn von Wien aus bis in die Sulzau begleitet hatte, „es aber vorzog, mit dem hochwürdigen Abte Albert von St. Peter in Salzburg den durch seine Fernsicht und seinen Pflanzenreichthum berühmten Geisstein, nördlich von Mittersill zu ersteigen.“ Über die Person Rudolf Felners sind sonst keine Details bekannt.
Im Städtischen Museum in Salzburg erhielt die Fahne die Inventarnummer 2-41. Maria Vinzenz Süß, Gründer des Museums, schrieb: „Die Fahne von der ersten Besteigung des Venedigers unter der Leitung des kaiserl. königl. Herrn Pflegers Ritter von Kürsinger in Mittersill, am 3. September 1841. Von dem k. k. wohllöblichen Kreisamte übergeben.“ Die vor 175 Jahren an das Museum gekommene Fahne ist vollständig erhalten. Sie setzt sich aus einer 219 cm langen, rot-weiß bemalten Holzstange, die von einer gold gefassten Kugel bekrönt wird, und einem 96 cm hohen und 100 cm breiten, bräunlich verblichenen Leinengewebe zusammen. Der Stoff ist aus drei horizontalen Bahnen, die mittlere von ihnen nochmals aus zwei Teilen, zusammengenäht. Auf das Gewebe ist ein Schriftzug gemalt: „[schwarz] Zur / Erinnerung an die erste Ersteigung / des / [rot] großen Venediger / [schwarz] am / 3ten September / 1841″, rechts unten in schwarz „RF [die ligierten Initialen Rudolf Felners] fecit“. Die Rückseite ist unbeschriftet.
Zum fünfzigjährigen Jubiläum der Erstbesteigung des Großvenedigers im Jahr 1891 veranstaltete die Sektion Salzburg des Österreichischen Alpenvereins eine dreitägige Feier. Am 3. September stiegen 120 Personen auf den Gipfel, wo drei Musikkapellen spielten und die Fahne, die dem Salzburger Museum entliehen worden war, in der Sonne flatterte. Und auch zum hundertjährigen Jubiläum im Jahr 1941 holte man die Fahne wieder aus dem Museum. Wegen der Kriegszeiten konnte die Feier nur in einem kleinen Rahmen gehalten werden. Trotzdem wanderten vierzig Bergsteiger auf den Venedigergipfel und „Kürsingers alte verblichene Fahne wurde enthüllt“ (Dieter Besl).
Die Großvenediger-Fahne präsentierte sich also bereits 1941 nicht mehr in den Farben Rot mit weißem Mitteilteil (von Ruthner) oder Weiß und Rot (Lasser von Zollheim), sie waren damals schon verblasst. Da sich der Fahnenstoff aus drei Bahnen zusammensetzt, ist anzunehmen, dass es sich bei der Variante rot-weiß-rot um die wahrscheinlichere gehandelt hat. Dem würden auch die sich abwechselnden Farben des Schriftzuges entsprechen. Umso erstaunlicher ist es, dass die von Rudolf Felner in Schönschrift aufgetragenen Buchstaben fast nichts von ihrem einstigen Aussehen eingebüßt haben. Sie machen die Fahne zu einem einzigartigen, unverwechselbaren Dokument. Die Tatsache, dass die Fahne in den österreichischen Landesfarben auf dem Gipfel gehisst, ins Tal zurückgetragen und erst nachträglich, nachdem die Erstbesteigung geglückt war, beschriftet wurde mit dem einzigen Zweck, die Erinnerung an dieses Ereignis wach zu halten, verdeutlicht die ungemein große Bedeutung, die dem Unternehmen beigemessen wurde. In diesem Punkt unterscheidet sich diese Fahne von üblichen Gipfelfahnen, die allein den Beweis der Ersteigung und die Anwesenheit der Eroberer auf dem höchsten Punkt kundtun sollen. Auf dem Großvenediger war jedoch nicht nur Neuland betreten, sondern die „höchste Spitze des Herzogthums“ erobert worden. Dass die Lage des soeben bezwungenen höchsten Berges im Land Salzburg besonders hervorgehoben wurde, verdeutlicht den patriotischen Charakter dieser Besteigung. Er erklärt sich aus der politischen Lage Salzburgs, der ungewollten Abhängigkeit von Oberösterreich, unter dessen Verwaltung es seit 1816 stand, und seinem Streben nach größerer Eigenständigkeit. Der Eindruck, den der Wiener von Ruthner am frühen Morgen vor dem Anstieg hatte, als ihn die Gruppe an die zur Verteidigung des heimatlichen Bodens sich vereinigenden Gebirgsbewohner erinnerte, ist sicher in diesem Zusammenhang zu sehen. Dies mag auch der Grund dafür sein, warum Ignaz von Kürsinger die Fahne in das Städtische Museum gegeben hat, das es sich seit 1834 zum Ziel gesetzt hatte, alles zu sammeln und zu bewahren, das die Erinnerung an Salzburgs Natur, Geschichte, Kunst und Kulturgeschichte wach halten und damit eine Abwanderung von Salzburger Kulturgut an das zuständige Linzer Provinzialmuseum verhindern sollte.